Buchautor Horst Schäfer spricht über Antisemitismus (09.11.2018)

Aus der Offenbach Post vom 09.11.2018:

Im Interview zur Reichspogromnacht

Buchautor Horst Schäfer spricht über Antisemitismus

Host Schäfer bei einem Vortrag im Heimatmuseum.
© scho (b)

Dietzenbach - In seinem mehr als 600 Seiten starken und 2017 erschienenen Buch „. . . und tilg nicht unser Angedenken“ schildert Horst Schäfer die Ereignisse im nach außen so beschaulichen Dörfchen Dietzenbach während des Dritten Reichs.

Als Herausgeber der aufklärenden Lektüre fungieren zwei Initiativen: die Arbeitsgruppe „Aktives Gedenken in Dietzenbach“ und der Verein „Zusammenleben der Kulturen“. Der „Richter am Verwaltungsgericht Wiesbaden im Ruhestand“ spricht im Interview mit Redakteur Ronny Paul anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht über Antisemitismus, historische Parallelen und ehrenamtliches Engagement. Beim Stolpersteinputzen, das heute um 17 Uhr vor dem Tegut-Markt (Babenhäuser Straße 26) beginnt, wird der 75-Jährige über die Schicksale jüdischer Bürger und anderer NS-Opfer während Deutschlands dunkelster Zeit erzählen.

Welche Bedeutung hat für Sie der 9. November?

Der 9. November ist einer der wichtigsten Tage im Ablauf jedes Jahres, 2018 natürlich besonders. Ich will nicht der Versuchung unterliegen, zwischen 1848, 1918, 1923, 1938 und 1989 zu gewichten. Aber der 9. November 1938 ist ein Urknall deutscher Geschichte und mitnichten ein „Vogelschiss“. Gerade wenn ich aktuelle Nachrichten und demoskopische Untersuchungen verfolge, die besagen, dass 54 Prozent aller Deutschen einen Schlussstrich unter diese Vergangenheit ziehen wollen. Dem stimme ich keineswegs zu. Ich wehre mich gegen das böse Wort von der „Moralkeule Auschwitz“, das Martin Walser 1998 ausgerechnet in der Frankfurter Paulskirche ausgesprochen hatte. Walser hat ohne Zweifel literarische Qualitäten, aber da hat er völlig daneben formuliert. In diesem Zusammenhang fallen mir die Worte des NS-Verfolgten Jean Améry ein: „Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwart werden kann.“ Das ist, was mich umtreibt.

Sie haben die NS-Zeit in Dietzenbach dokumentiert. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie von antisemitischen Übergriffen in Deutschland lesen?

Beunruhigung, Erschrecken, Entsetzen, nicht Angst, aber Sorge. Ich habe keine Angst vor den großen und kleinen Trumps und Gaulands auf der Welt. Mein Vertrauen in die demokratischen Kräfte dieses Landes ist groß. Gehen wir mal vom Mikrokosmos Dietzenbach aus. Hier hat es ab 1933 damit angefangen, dass bestimmte Familien – etwa die Familie Wolf in der Bahnhofstraße 71 – in Schule und Geschäftsleben plötzlich radikal ausgegrenzt wurden. Die Bevölkerung hat sich nicht schützend vor sie gestellt, sie hat ganz überwiegend teilnahmslos zugesehen. Diese Teilnahmslosigkeit beobachte ich heute in vielen Bevölkerungskreisen auch. Das macht mir Sorgen. Aber ich baue darauf, dass irgendwann die Leidensgrenze erreicht sein wird, dass die Menschen die demagogischen Angstprediger und ihr eindimensionales Politikverständnis durchschauen und differenzieren lernen, dass sie ihre gemeinsamen Interessen erkennen und aufstehen. Was aber auch nicht geht, dass man gezielt Bevölkerungskreise ausgrenzt, die sich jetzt mal in der Wahlkabine zu einer Protesthaltung aufgerafft haben. Von denen erwarte ich andererseits aber auch, dass sie sich entschieden von antisemitischen und rassistischen Äußerungen der von ihnen gewählten Politiker distanzieren.

Wie meinen Sie das?

Man darf nicht sagen, dass alle diese Leute, die hinter diesen Pegida-, AfD- und Identitär-Demonstranten und Hilter-Grüßern hinterherlaufen, Neonazis sind. Man muss auf sie zugehen und ihnen aktiv zuhören. Wenn man sie wie Sigmar Gabriel „Lumpenpack“ nennt, drängt man sie in eine Ecke, aus der sie nicht rauskommen. Auch verbale Verletzungen ändern keine Protesthaltungen.

Erkennen Sie Parallelen zwischen damals und heute?

Ja, in den Ausdrucksformen. Wenn ich heute diese antisemitischen Ausschreitungen gegen Kippa-Träger, gegen jüdische Restaurantbesitzer, die Demolierung von jüdischen Läden und Geschäften sehe, die auch lange vor der Reichspogromnacht schon mit Hitlers Amtsantritt am 1. April 1933 in Deutschland begonnen hatten, da sehe ich gewisse Parallelen. Die rechtliche und soziale Lage von 1938 und 2018 ist aber eine völlig andere. Die rechtliche und soziale Absicherung war damals insbesondere für die von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen völlig verloren gegangen. Die Frage, „Fühlen Sie sich wohl, sind Sie zufrieden mit der jetzigen Gesellschaft“, wird heute zu 80 Prozent bejaht. 1938 hätten da vielleicht fünf Prozent mit Ja geantwortet. Ich erkenne in den Ausdrucksformen Parallelen und das macht mir Sorgen, aber über den Tag hinaus gesehen, macht mir das keine Angst. Ich bin Geschichtsoptimist und glaube, dass jeder Mensch irgendwann aufsteht, aufwacht und sich nicht alles gefallen lässt. Da muss ich auch meinen eigenen Berufsstand ins Blickfeld und in die Pflicht nehmen.

Inwiefern?

Alles beginnt mit der Verrohung der Sprache. Wenn Begriffe der Nazis wieder salonfähig gemacht werden, wenn der Bundestagsabgeordnete Jens Maier antisemitische Äußerungen macht und die Rechtsprechung sich nicht dazu aufraffen kann, das zu verurteilen, da bin ich entsetzt. Die Kollegen merken überhaupt nicht, dass sie auch eine historische Verantwortung tragen, sie ignorieren das. Ich sehe ein großes Versäumnis auch bei Juristen, den Menschen den Wert unseres Rechts- und Sozialsystems nicht zu erklären. Das beobachte ich schon seit Jahrzehnten. Ehrverletzungen als Teil der Politik werden von der Rechtsprechung geduldet mit der Begründung, im Wahlkampf müsse man ja mal schärfer formulieren dürfen. Wer das duldet, ist mitbeteiligt an der Polarisierung, an der Spaltung der Gesellschaft und an der Zunahme von Gewalt.

Also müssten auch Juristen in Verantwortung konsequenter durchgreifen?

Das ist die Lehre aus dem 9. November 1938 und aus der Revolte von 1968, dass man sich auch historisch einordnet. Juristen haben seit Menschengedenken Rechts- wie Unrechtsstaaten mitbegründet. Die Hälfte der Teilnehmer der Wannseekonferenz etwa waren Juristen! Kein Ruhmesblatt für den Berufsstand. Warum wird beispielsweise die Immunität des Bundestagsabgeordneten Jens Maier nicht aufgehoben?

Quelle:
https://www.op-online.de/region/dietzenbach/dietzenbach-buchautor-horst-schaefer-spricht-interview-reichspogromnacht-ueber-antisemitismus-10540987.html

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